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Politik
Jahrelang haben wir die Digitalisierung schenrechtlichen Jargon verpackt wird. es heißen können „Mission accomplis-
verschlafen. Offensichtlich wird immer KABINETT: In Deutschland gibt es bei hed“. Eine ehrliche und nüchterne Debat-
noch nicht realisiert, welche Umwälzun- nicht wenigen auch zunehmend Gen- te über den Einsatz am Hindukusch gab
gen auf Grund der Digitalisierung in der der-Probleme mit der Sprache zwischen es in Deutschland nicht. Aus dem Kabuler
globalen Weltordnung auf uns zukom- Recht und Gerechtigkeit. Debakel müssen grundsätzliche Lehren
men. Die Veränderungen sind grundle- Dr. Ritter: Wir gendern seit Jahrtausenden gezogen werden. Gerade die deutsche
gender als jemals zuvor in der Geschichte. Außenpolitik darf nicht mehr in simpler
und das ist gut so. Jeder kann so gendern,
KABINETT: Wie ist die zukünftige Rol- wie er will. Aber manchmal wundere ich Gesinnungsethik verharren.
le Deutschlands in der Weltpolitik und mich nur noch. Beispielsweise bei einem KABINETT: Am 26. September sind Bun-
-wirtschaft zu sehen? Leserbriefschreiber im Bonner General- destagswahlen. Haben Sie sich die Pro-
Dr. Ritter: Kein europäischer Staat kann anzeiger wundere ich mich über Frauen gramme angesehen?
auf sich gestellt in der Liga der USA und und Feministinnen. Wo bleibt der Auf- Dr. Ritter: Von Kurt Tucholsky gibt es eine
China mitspielen. Nur zusammen werden schrei? Müssten sie nicht lauthals pro- Wahlkampfsatire aus der Weimarer Re-
wir mit ihnen auf Augenhöhe sein. Al- testieren? Merken sie nicht, dass sie bei publik: „Bitte sehr“, sacht det Frolein, wat
leine die Europäische Union in ihrer Ge- den meisten Formen nur Anhängsel sind da stand, da nehm Sie, unsa Programm
samtheit hat eine reale Chance – somit an die Männer? „Lehrer*innen“, Journa- Numma siemundfürressich – da is det al-
auch wir Deutsche - als gleichberechtigte list*innen, und so weiter? Die einzig an- lens drin. Wenn es Sie nicht jefällt´, sacht
Player in der weltweiten Wirtschaft und gemessene und würdigende ist die volle se, denn kenn Siet ja umtauschen‘‘.
Politik im Spiel zu bleiben. Eines unserer Nennung „Lehrer und Lehrerinnen“ oder Die Wahlprogramme der Parteien werden
großen Ziele ist ein global vernetztes Eu- „Bäcker und Bäckerinnen“. nur von wenigen gelesen. Sie dienen vor
ropa. Es ist höchste Zeit, Chinas Projekt Soviel Zeit sollten uns alle Frauen und allem der eigenen Klientel. Im Grunde
der „Seidenstraße - Belt and Road“ eine Männer wert sein, dass wir sie voll und ei- genommen wollen sie damit lieber das
eigene Konnexionsstrategie entgegenzu- gens respektieren. Wer das Genderstern- verbal Erreichte verwalten, anstatt die
setzen: mit schnellen Schritten – nach- chen bei Lehrer*innen mit dem Knacklaut Zukunft wirkungsvoll und aktiv zu ge-
haltig, umfassend und regelbasiert. aussprechen möchte, wird auf eine Mehr- stalten. Die Parteien sollten neben dem
Über die bisherige „Antiseidenstraße“ heit treffen, die so einen gravierenden Klimaschutz vor allem die Wirtschaft und
kann Peking nur schmunzeln. Verstoß gegen Lautgesetze und Gepflo- die Zukunftsfragen, die für eine moder-
Europa fehlt der Mut zu mehr Einheit genheiten des Deutschen als anstößig, ne und erfolgreiche Industriegesellschaft
auch auf den für die EU wichtigen Gebie- unbequem und gestelzt vermeidet, um entscheidend sind, ganz nach vorne stel-
ten. Nämlich dort, wo die EU ihre Kern- sich nicht die Zunge zu verknoten. len und in den Focus rücken. Dabei sollte
kompetenz hat. Wir müssen vor allem die Vergessen wir nicht. Die deutsche Spra- es weniger um Verbote und mehr um das
Möglichkeit schaffen, die Außenpolitik der che ist das höchste Kulturgut der größ- ermöglichen gehen.
EU durch Mehrheitsentscheidungen zu ten Sprachgemeinschaft in der Europäi- KABINETT: Welche Parteien wollen was
stärken, anstatt die Vielfalt der Kultur in schen Union. verbieten?
den Mitgliedsländern zu tangieren. Es bleibt dabei: „Die Sonne, die Erde und Dr. Ritter: Der Bonner Generalanzeiger
KABINETT: Wo sehen Sie Gefahren in un- der Mond in unserer Muttersprache. hat die Verbotsideen der im Bundestag
serer Gesellschaft? Und der Planet, nicht die Planetin.“ vertretenen Parteien umfassend darge-
Dr. Ritter: Zum Beispiel in der Wahrneh- Ganz schlimm wird es, wenn sich sogar stellt. Platz 1 Die Linke, 2 Die Grünen, 3
mungsfalle der Gesellschaft. Sie ist so- bis zu den Parteien von der AFD diktie- Die AFD, 4 CDU/CSU, die SPD, 6 die FDP.
weit polarisiert, dass die einen vor den ren lassen, worüber sie reden und wor- KABINETT: Welche Koalition wird es nach
33.000 Rechtsextremisten warnen, die über nicht. 2 + 2 = 4, das Wort normal der Wahl geben?
anderen vor den 34.000 Linksextremis- bleibt normal auch wenn es die AFD für Dr. Ritter: Es gibt Wahrscheinlichkeiten.
ten und die dritten vor 29.000 Islamis- ihren Wahlkampf missbraucht. Die hängen jedoch vom Wahlergebnis ab.
ten. Es ist die unscharfe bis völlig feh- KABINETT: Geben Sie uns einen Kommen-
lende Grenzziehung zu den Extremisten tar zu Afghanistan? Egal wer nach den Wahlen regiert, die
neue Regierung braucht sehr viel Mut.
auf der rechten, linken und im religiösen Dr. Ritter: Verzweiflung der Menschen Das Ziel einer Klimaneutralität erfordert
Feld, die sich immer mehr als die Ge- am Flughafen von Kabul zerreißt einem eine beachtliche Transformation der Ge-
fährdung der freiheitlichen sozialen sein Herz. Bilder, die ich heute sehe, sind sellschaft, sagt der Bundespräsident.
Demokratie darstellt. Das eine Problem schmerzhaft und erschütternd. Meine
darf das andere nicht relativieren. Kritik geht über die falsche Einschätzung Betroffen sind alle gesellschaftlichen
Sektoren: Wohnen, Bauen, Mobilität,
Seit kurzem wird die Singularität des der Lage hinaus. Es ist schlicht ein Desas- Schulen und Landwirtschaft. Die Dyna-
Holocaust auch von Linken infrage ge- ter, die Entwicklung in Afghanistan eine mik der Veränderung wird dabei enorm
stellt. Sie verdränge koloniale Genozide Tragödie. Wertegeleitete Außenpolitik sein. Besonders bei der Klimagerechtig-
und sei eine deutsche Zivilreligion. Die ist in Afghanistan und im Irak krachend
Argumente dieser Kritik sind abenteuer- gescheitert. Nicht nur deutsche Politik keit dürfen wir nicht länger warten. Die
Politik muss jetzt die Entscheidungen
lich und voller historischer Lücken. Neu kommt in den letzten Jahren immer wie- treffen, die dazu notwendig sind.
ist, dass der Antisemitismus im men- der zu spät. Vor genau zehn Jahren hätte
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